
Canon RF 200-800mm – ein kleines, ganz persönliches Review

Seit fast einem halben Jahr ist es nun bei mir, das viel beschriebene und nicht ganz unumstrittene Canon RF 200-800. Für mich ging ein kleiner Traum in Erfüllung, denn das EF 100-400mm, so gern ich es auch habe, ist in seiner Brennweite doch begrenzt – und mit dem Einsatz eines Telekonverters schwächelt der AF doch merklich. Und so war die Freude groß, als unser kleiner Händler aus dem Nachbarort plötzlich anrief und verkündete, dass er eines dieser begehrten Telezooms für uns bereit stehen hat.
Einige Monate konnte ich die Linse nun testen. Wie erwartet gab es anfänglich einige Schwierigkeiten. Man muss sich schließlich erst an das Handling gewöhnen. An die Größe, das Gewicht, den Zoomweg, die Lage der verschiedenen Ringe usw. Doch mittlerweile ist all das in Fleisch und Blut über gegangen und so möchte ich euch heute meinen persönlichen Eindruck schildern. Dabei soll es nicht um all die technischen Daten gehen, die ihr überall sonst nachlesen könnt, sondern darum, wie brauchbar das Objektiv in der Praxis ist und welche Vor- und Nachteile es beim kreativen Fotografieren bringt.
Handhabung
Das RF 200-800mm ist hervorragend ausbalanciert, was bei einem Objektiv mit einem solchen Zoomweg nicht selbstverständlich ist. Selbst bei der maximalen Auszugslänge bleibt das Handling ausgesprochen gut, das Gewicht ist super verteilt.
Einziges, nicht unerhebliches Manko, das ihr sicher schon aus anderen Reviews kennt, ist die Lage des manuellen Fokusrings. Das betrifft natürlich niemanden, der ausschließlich im AF fotografiert (der im übrigen absolut treffsicher ist). Wer aber gerne durch Strukturen hindurch oder im Defokus fotografiert, hat hier eine ziemliche Stolperfalle. Leider ist die Lage des Rings laut Canon aus technischen und finanziellen Gründen nicht vermeidbar. Eine andere Position würde einen ´größeren Aufwand bedeuten, der sich dann auch im Preis niederschlagen würde. Ein Kompromiss also, den man eingehen muss, wenn man ein solches Objektiv zu diesem Preis kaufen will.
Blende, Fokus und ISO
Von vielen Fotografen gab es von Anfang an (und ohne es selbst je getestet zu haben) Kritik an der Offenblende von f9 bei 800mm. Aber lasst euch gesagt sein: Das ist in den allermeisten Fällen mehr als ausreichend. Natürlich würde eine noch offenere Blende ein noch schöneres Bokeh zaubern. Aber hast du auch immer einen Sherpa dabei, der dir ein Equipment trägt? In diesem Fall ist die maximale Blende nämlich nicht nur ein finanzieller Kompromiss, sondern auch einer mit dem Gewicht der Linse. Und es ist ein guter Kompromiss! Durch die lange Brennweite hat man nämlich in der Regel mehr als genug Möglichkeiten zum Vernebeln des Motivs. Und wenn es mal wirklich nicht ausreicht? Dann muss man eben kreativ werden…
Doch die Blende des Objektivs bietet noch ganz andere Möglichkeiten. Wenn diese nämlich geschlossen wird, ist nahezu bei allen Lichtbedingungen eine Langzeitbelichtung auch am Tage möglich. Die minimale Blende, über die in der Regel kaum gesprochen wird, beträgt f32-54. So ist im Normalfall auch kein Graufilter nötig, um auch bei helleren Lichtbedingungen zum Beispiel ICMs (ICM = Intentional Camera Movement, siehe Artikel „ICM in der Tierfotografie“) zu machen. Ein riesiger Vorteil gegenüber anderen Linsen!
Der Autofokus des RF 200-800mm ist schnell und ziemlich treffsicher. Allerdings zeigt der Autofokus bei schlechten Lichtverhältnissen Schwächen, was besonders in der Dämmerung oder bei nächtlichen Einsätzen auffällt. Das habe ich gleich zu Anfang feststellen dürfen, als wir in der Lausitz direkt vor kämpfenden und röhrenden Hirschen saßen und ich keine Chance mehr hatte, zu fokussieren.
An dieser Stelle habe ich auch gemerkt, wie schnell man bei diesem Objektiv an die ISO-Grenzen der Kamera gerät. Zwar ist der Stabi wahnsinnig stark und ermöglicht so irre lange Verschlusszeiten auch ohne Stativ, doch bei sich bewegenden Motiven wie Hirschen ist dann auch schnell Schluss mit scharfen Fotos.

Stabi und ICM
Was bei statischen Motiven ein großer Vorteil ist, ist bei ICMs von deutlichem Nachteil. Einen gehenden Hirsch in weiterer Entfernung als Mitzieher zu fotografieren, war für mich zu Beginn kaum möglich, da der Stabi sich alle Mühe der Welt gegeben hat, meine Bewegung zu ignorieren… Doch mit der Zeit lernt man damit umzugehen und entwickelt Strategien, um den Stabi zu überlisten!
- Strategie 1: Stabi „einschwingen“ Ich bewege dann die Kamera schon einen Moment mit dem Motiv mit, bevor ich den Auslöser drücke. Dabei macht es Sinn, vor dem Auslösen etwas schneller zu bewegen als das eigentliche Motiv. So erkennt der Stabi die Bewegungsrichtung und stabilisiert mehr in die entgegengesetzte Richtung (also beim Beispiel des Hirsches nach oben und unten) – so zumindest meine Erfahrung.
- Strategie 2: Eigene Bewegungen Ich bewege die Kamera also nicht nur in Bewegungsrichtung des Motivs, sondern bringe eigene Bewegungen mit ein. So weiß der Stabi oft nicht so genau, was er tun soll oder ist mit der Masse an Bewegungen schlicht überfordert. Auch hier kann ein Einschwingen sinnvoll sein!
- Strategie 3: Stabi AUS! Funktioniert das alles nicht, schalte ich den Stabi aus. Das klingt wie die einfachste Variante – aber unterschätze nicht die 800mm (oder mit Konverter vielleicht noch mehr), die du plötzlich freihand mit dem Motiv mitführen musst! Was da hilft? Nur eins: Übung!
Ich kann nicht sagen, welche dieser drei Strategien meine bevorzugte ist. Es ist sehr situations- und tagesabhängig – und manchmal funktioniert auch einfach keine davon. Daniel durfte sich jedenfalls schon mehr als eine Schimpftirade darüber anhören, dass der Stabi einfach Mist ist und einem „jedes“ ICM versaut… 😉





Fazit
Auch wenn das Objektiv so seine Macken hat, die sich zum Teil auch nicht vermeiden lassen, möchte ich diese Linse nicht mehr hergeben. Wer sich kein Supertele leisten kann oder will oder schlicht einen großen Brennweitenbereich abdecken möchte, ist mit dieser Linse absolut gut bedient. Es ist in den unterschiedlichsten Bereichen einsetzbar und auch blanko, also ohne Konverter, weitaus flexibler als alle Teleobjektive, die bisher auf dem Markt sind. Es ist nach meinem „Immer-drauf“, dem EF 100-400mm, meine zweitliebste Linse geworden, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Begegnung mit Tieren wahrscheinlich ist.
Ich hoffe, ich konnte euch einen guten Einblick gewähren in meine Arbeit mit dieser spannenden Linse!
Wenn ihr noch Fragen habt, lasst gerne einen Kommentar da.
Bis dahin, bleibt gesund und kreativ!
Christine
PS: Lest unbedingt die Bildunterschriften für weitere Infos!














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